Blog itw : im dialog

Laufende Projekte

Wir müssen reden über ...

... Un Faible Degré d’Originalité 

Wem gehört die Performance? – Antoine Defoort tritt ans Rednerpult und beugt sich über die Mikrofone. Als er einen Moment später zurück in den Raum tritt, bleibt seine Stimme trotzdem verstärkt. Es ist nur eine kurze Irritation, die vielen Zuschauer*innen in Defoorts anhaltendem Redefluss wohl gar nicht bewusst geworden ist. Eine gute Viertelstunde später kommt der Performer darauf zurück und legt das, was er seinen Mikrofonwitz nennt, offen: Unterm Hemd trägt er unsichtbare Mikros, diejenigen am Pult sind nur eine Attrappe. Defoort erzählt, er habe einen Anwalt für Urheberrecht zu dem Mikrofonwitz konsultiert; der habe ihm versichert, er könne diesen als sein geistiges Eigentum verteidigen, weil er 1. eine sinnlich wahrnehmbare Form und 2. ein Minimum an Originalität (Un Faible Degré d’Originalité) zeige. Der Mikrofonwitz, so erklärt Defoort, sei nun bis 70 Jahre nach seinem Tod geschützt; wer ihn vor – schätzungsweise – dem Jahr 2139 aufführe, müsse mit Gefängnis oder Geldstrafe rechnen. 

Beim Publikum bleiben Einwände und Nachdenken zurück: Kann Defoort wirklich behaupten, als erster mit Verstärkungstechnik in der Performance zu irritieren? Ist der Mikrofonwitz ohne die Aufmerksamkeit des Publikums zu denken und wurde er nicht schon durch die Erklärung zu etwas anderem? Kann Performance überhaupt als Werk unter das Verwertungsverbot fallen? Schließlich sind Produktion und Rezeption grundsätzlich kollektive Akte. Wer ist die Autor*inneninstanz bei einer Performance? 

Es ist schade, dass Defoort nicht mehr über Performance als Herausforderung für das Urheberrecht spricht. Seine Beispiele aus Literatur oder Musik haben klaren Werkcharakter. Schade ist auch, dass der Mikrofonwitz die einzige Irritation des Abends bleibt, die beim Zuschauen ein freies Nachdenken auslöst. Denn so sehr Defoort den offenen, dynamischen Austausch von Ideen fordert und das Internet als Medienrevolution feiert: Über seine eigene Performance gibt er nie die volle Souveränität auf und ermöglicht so keine freie Aneignung und Vervielfältigung der Perspektiven im Zuschauen. Ist eine Kultur der Creative Commons neben der juristischen und technologischen Herausforderung nicht auch ein ästhetischer Anspruch?
(Benjamin Hoesch und Katharina Lehner, 15.5.19)

... Workshop

Drei Männer erteilen Auskunft darüber, wie die Dinge funktionieren, wie sie besser wären oder schlicht und einfach wie sie anzugehen sind. Das Themenspektrum reicht dabei von praktischen Heimwerkertipps über Kinderpflege und Leichenbestattung bis hin zu allgemeinen Überlebensstrategien. Doch so offen das Feld dabei scheint und vom Nützlichen zum Unsinnigen schweift, so stark drängt sich zunehmend die Frage auf, warum diese ganzen Ratschläge erteilt werden? Wem sollen sie nützen? Und vor allem, worin liegt ihre Dringlichkeit? Männer erklären die Welt, so weit so bekannt, und auch unter Begriffen wie Mansplaining, Manterupting oder male gaze in den letzten Jahren verstärkt diskutiert und problematisiert. 

In einer Szene in der Mitte der Performance erreicht diese Logik des männlichen Erklärens ihren Höhepunkt: Einer der Darsteller referiert auf die Lebensweisheiten seines vorgeblichen Großvaters, die er kontinuierlich mit der Formel „My grandfather used to say...“ einleitet. Ein Mann gibt hierbei in äußerster Emphase das Regelwerk weiter, welches ihm von seinem männlichen Vorfahren mitgegeben wurde; in der wiederkehrenden Formulierung des „used to say...“ klingt es fast wie ein Mantra. Auch hier reichen die erteilten Anweisungen von scheinbar praktischen Tipps zur Herstellung von Sonnencreme über das Öffnen des Eingangs zu einem Schloss bis hin zu den Verführungskünsten des Mannes und spitzen sich dabei auf die Frage zu, was ein Mann zu leisten vermag – beim Gehen, Sprechen, Handeln, sich in Pose werfen, beim Eindringen in Bereiche, die ihm zunächst verschlossen scheinen. 

Drei Männer erteilen so nicht nur Auskunft, sie präsentieren sich als Macher und zugleich in einer machtvollen Position, die nicht einfach nur ein Erklären der Welt bedeutet, sondern in ihrer Dominanz auch etwas Destruktives und Aggressives beinhaltet. Die komplexe Dramaturgie des Abends zeigt sich dabei in feiner Ironie, Sarkasmus und wiederkehrenden Motiven, mit denen die eigenen Aussagen immer wieder in Frage gestellt werden. Das dabei gezeichnete Männlichkeitsbild lässt sich jedoch nicht allein im ironischen Bruch auflösen. Dringlich bleibt daher die Frage: Wie können drei Männer im 21. Jahrhundert ihre weiterhin andauernde Präsenz dafür nutzen, ihre Position auf der Bühne ästhetisch zu hinterfragen?
(Sophie Osburg und Regina Rossi, 16.5.19)

... Jeden Gest

Vier gehörlose Personen erzählen auf der Bühne ihre individuellen Erfahrungen, die sie in einem Umfeld machen, das massgeblich von Hörenden geprägt ist. In dieser schlichten Inszenierung (Regie Wojtek Ziemilski) wird einem grösstenteils hörenden Publikum aufgezeigt, wie komplex es ist, zwischen zwei Sprachen und Kommunikationssystemen zu wechseln und wie eng Sprache und Kultur zusammenhängt. Die vier Perfomer*innen berichten in gemeinsamen und individuellen Szenen über ihre Alltagserfahrungen, ihre Kommunikationspräferenzen und ihre Identifikation mit ihrer jeweiligen Gehörlosigkeit. 

In «Jeden Gest» gibt es eine Szene, in der nicht nur erklärt wird, wie ein Cochlea-Implantat funktioniert, sondern eine Variante davon dem hörenden Publikum auditiv vorgeführt wird. Inwiefern sind Cochlea-Implantate problematisch? 
Aus der Perspektive von Hörenden wird offensichtlich davon ausgegangen, dass ein intaktes Gehör und somit der Zugang zur ‚hörenden Welt’ von primärer Bedeutung sei. Die in den 1960er Jahren begonnene Entwicklung des heute bei Kindern, wie bei Erwachsenen weit verbreiteten Cochlea-Implantats (Hörprothese für Gehörlose) scheint mehr als willkommen. Eine Sendespule, die hinter dem Ohr auf der Kopfhaut platziert und eine Empfangsspule, die operativ ins Innenohr eingesetzt wird, ermöglicht die Übertragung von auditiven Signalen. Auf bedingte und unterschiedliche Weise, wird so denjenigen Personen mit einem Cochlea-Implantat die Partizipation an der Welt der Hörenden erlaubt. In «Jeden Gest» wird der Gebrauch des Implantats kritisch hinterfragt, da neben den mühseligen physischen Implikationen auch spezifische kommunikative Eigenschaften aufgesetzt bzw. aufgegeben werden. Auch die von einer jungen Performerin beschriebene Tatsache, dass es für Gehörlose keine gemeinsamen ‚Texte’ gibt, ist vielleicht dem stetigen Versuch geschuldet, die Kommunikation der Gehörlosen jener der Hörenden anzupassen. 

Gibt es in der Inszenierung auch Momente, in denen dem hörenden Publikum keine Übersetzung geleistet wird? 
Im vierten Solo des Abends zeigt ein junger Mann, der kein Cochlea-Implantat hat, seine Interpretation eines Manga-Films, welcher grossflächig auf die Rückwand gezeigt wird. Vor der Projektion führt der Performer eine ‚Bewegungssequenz’ aus, die weit darüber hinausgeht, was gemeinhin als ‚Übersetzung’ verstanden wird. Die vermittelnde wird auch zur poetischen Geste bzw. zum Gedicht. Dass hier eine überzeugte Identifizierung mit der eigenständigen Kommunikationsform der Gebärdensprache postuliert und eine Absage an technische Eingriffe, die Anpassung an ein hörendes Umfeld erleichtern, ist in dieser Szene schwer zu verkennen. Sie ist – so auch das ganze Stück – berührend, informativ und entlarvend zugleich. 
(Luisa Funk und Johanna Hilari, 18.5.19) 

... Colours of Hope

Vor etwa zehn Jahren nahm ich meinen Mann mit in eine Inszenierung von Ilka Schönbein. In Krisenmomenten wird dieser unschöne Zwischenfall immer wieder aus der Versenkung hervorgeholt und gegen mich verwandt. The Colours of Hope – ein Projekt des Masterstudienganges Expanded Theater der Hochschule der Künste Bern – ruft bei mir ein ähnliches Unbehagen hervor wie damals die Schönbein-Aufführung. Wenn ich mich recht erinnere, kochte dabei eine anorexische Frau stundenlang Polenta. Für meinen Mann wäre The Colours of Hope ein Scheidungsgrund. Laut Beipackzettel handelt es sich bei dieser Inszenierung um ein „Visual Poem über die Sehnsucht nach Heilung“. Es gehe um Verletzungen und die „Suche nach Berührung jenseits des Like Buttons“. Was tatsächlich zu sehen ist, ist eine Gruppe von jungen Menschen, die aus nicht erkennbaren Gründen in einem quadratförmigen Bühnenabschnitt herumlaufen oder in Echtzeit Ikea-Regale aufbauen. Das Konzept des Expanded Theater scheint hier vor allem auf eine Form der Zeitdehnung abzuzielen, die die minimalen Inhalte auf eine möglichst lange Spieldauer auszudehnen sucht. Der sich deutlich abzeichnende Werkschau-Charakter der Inszenierung wird in der öffentlichen Präsentation so sehr verschleiert, dass die Erwartung an einen professionell gestalteten Theaterabend herb enttäuscht wird. Die sichtlich durch ihre Schauspiel-Ausbildung geprägte Spielweise der Akteur_innen steht in frappantem Gegensatz zu den (vermutlich von der Regieinstanz eingebrachten) Anleihen an die ästhetischen und darstellerischen Strategien des Freien Theaters und der Performance Art.

"Können wir wirklich einfach so tun, als würden wir nicht sehen, was da gerade läuft?" Diese im Programmheft aufgeworfene Frage bezieht sich anscheinend auf gesellschaftliche Problemkomplexe wie die drohende Klimakatastrophe, den latenten Fremdenhass oder den wachsenden Rechtspopulismus, die in der Performance in Form von plumpen Anspielungen in den Bühnenraum geworfen und dort liegengelassen werden. Angewendet auf die Zuschauer_innen möchte ich diese Frage mit einem klaren Ja beantworten. Wenn das Publikum sich mit einer Inszenierung konfrontiert sieht, die es konsequent verweigert, ein wie auch immer geartetes Interesse hervorzurufen, dann können und dürfen wir so tun, als würden wir nicht sehen, was da gerade läuft. Ich erinnere mich vage an einen theaterwissenschaftlichen Artikel, vielleicht von Jens Roselt oder Kai van Eikels, der darauf verweist, dass die Zeit, die Zuschauer_innen im Theater verbringen, Lebenszeit ist. Diese haben das Recht, der Verschwendung dieser ihrer Lebenszeit aktiv entgegenzuwirken! Ist das Beenden der leiblichen Kopräsenz nicht möglich, dann bietet es sich an, eine diskrete Unterhaltung mit seinen Sitznachbarn zu beginnen und auf diese Weise das Herausbilden einer Leidensgemeinschaft voranzutreiben. Alternativ kann meditiert, geschlafen oder an Sex (mit dem eigenen Partner oder ggf. auch weiteren Personen und/oder Gegenständen) gedacht werden. „Dieser Abend wird dein Leben verändern“, heißt es auf dem inszenierungsbegleitenden Flyer. Diese Drohung müssen wir ernst nehmen und die nötigen Maßnahmen ergreifen, um unsere Lebenszeit und Liebesbeziehungen zu schützen!
(Vera Nitsche, 17.5.19)

... Tijuana

Gabino Rodríguez zeigt in Tijuana seine Recherchearbeit über fünf Monate als Mindestlohnarbeiter am Fliessband einer Fabrik in der Grenzstadt Tijuana in Mexiko.
2015 eignet er sich eine neue Identität an – Santiago Ramíréz.

Auf der Bühne erzählt er von seinem Rollenwechsel und dem Alltag in Tijuana, dabei schlüpft er in die verschiedenen Charaktere, die ihn während dieser Zeit umgaben: die Familie, mit der er wohnte, Arbeitskollegen in der Fabrik, Menschen von der Strasse und sich selbst, seine Rolle als Santiago Ramírez. Tagebucheinträge, Interviews, Tonaufnahmen und Videomaterial, offensichtlich von einer ‚versteckten‘ Kamera, führen dem Zuschauenden vor, dass es hier um Fakten geht. Demgegenüber steht die Tatsache, dass wir es im Theater auch immer mit dem Suggerieren von Wahrheit zu tun haben, dies zumindest mitgedacht werden muss. In diesem Fall gehen wir davon aus, dass die Wahrheit ‚dokumentarisches Theater‘, mit seinem Anspruch realer Begebenheiten, eine suggerierte ist. Schliesslich schafft der Künstler Gabino Rodriguez in der Art wie er seine Bühnenwelt gestaltet und bespielt (zur Musik tanzende Fähnchen, Windmaschine, kulissenhaftes Bild an der Rückwand der Bühne) auch immer wieder Momente einnehmenden Theatererlebens. Und es ist genau jene Mischung aus Zeichen suggerierter Wahrheit und jenen, die Realität beanspruchen, die das Stück konsequent verfolgt. Ob wir Rodriguez den fünfmonatigen Aufenthalt in Tijuana glauben oder nicht, mit Blick auf Form und Inhalt lässt sich folgende Frage aufwerfen: Warum glauben wir manche Dinge auf der Bühne und andere nicht? Spezifischer liesse sich fragen: Wird hier das Dokumentartheater überführt?
(Anna Maier, Rosanna Rotach, Luisa Funk, 18.5.19)