... Jeden Gest
Vier gehörlose Personen erzählen auf der Bühne ihre individuellen Erfahrungen, die sie in einem Umfeld machen, das massgeblich von Hörenden geprägt ist. In dieser schlichten Inszenierung (Regie Wojtek Ziemilski) wird einem grösstenteils hörenden Publikum aufgezeigt, wie komplex es ist, zwischen zwei Sprachen und Kommunikationssystemen zu wechseln und wie eng Sprache und Kultur zusammenhängt. Die vier Perfomer*innen berichten in gemeinsamen und individuellen Szenen über ihre Alltagserfahrungen, ihre Kommunikationspräferenzen und ihre Identifikation mit ihrer jeweiligen Gehörlosigkeit.
In «Jeden Gest» gibt es eine Szene, in der nicht nur erklärt wird, wie ein Cochlea-Implantat funktioniert, sondern eine Variante davon dem hörenden Publikum auditiv vorgeführt wird. Inwiefern sind Cochlea-Implantate problematisch?
Aus der Perspektive von Hörenden wird offensichtlich davon ausgegangen, dass ein intaktes Gehör und somit der Zugang zur ‚hörenden Welt’ von primärer Bedeutung sei. Die in den 1960er Jahren begonnene Entwicklung des heute bei Kindern, wie bei Erwachsenen weit verbreiteten Cochlea-Implantats (Hörprothese für Gehörlose) scheint mehr als willkommen. Eine Sendespule, die hinter dem Ohr auf der Kopfhaut platziert und eine Empfangsspule, die operativ ins Innenohr eingesetzt wird, ermöglicht die Übertragung von auditiven Signalen. Auf bedingte und unterschiedliche Weise, wird so denjenigen Personen mit einem Cochlea-Implantat die Partizipation an der Welt der Hörenden erlaubt. In «Jeden Gest» wird der Gebrauch des Implantats kritisch hinterfragt, da neben den mühseligen physischen Implikationen auch spezifische kommunikative Eigenschaften aufgesetzt bzw. aufgegeben werden. Auch die von einer jungen Performerin beschriebene Tatsache, dass es für Gehörlose keine gemeinsamen ‚Texte’ gibt, ist vielleicht dem stetigen Versuch geschuldet, die Kommunikation der Gehörlosen jener der Hörenden anzupassen.
Gibt es in der Inszenierung auch Momente, in denen dem hörenden Publikum keine Übersetzung geleistet wird?
Im vierten Solo des Abends zeigt ein junger Mann, der kein Cochlea-Implantat hat, seine Interpretation eines Manga-Films, welcher grossflächig auf die Rückwand gezeigt wird. Vor der Projektion führt der Performer eine ‚Bewegungssequenz’ aus, die weit darüber hinausgeht, was gemeinhin als ‚Übersetzung’ verstanden wird. Die vermittelnde wird auch zur poetischen Geste bzw. zum Gedicht. Dass hier eine überzeugte Identifizierung mit der eigenständigen Kommunikationsform der Gebärdensprache postuliert und eine Absage an technische Eingriffe, die Anpassung an ein hörendes Umfeld erleichtern, ist in dieser Szene schwer zu verkennen. Sie ist – so auch das ganze Stück – berührend, informativ und entlarvend zugleich.
(Luisa Funk und Johanna Hilari, 18.5.19)