Comics im Theater Schauplätze – Spielarten – Fallstudien

Leitung: Prof. Dr. Beate Hochholdinger-Reiterer
Forschungsassitent/Doktorand: lic.phil. Mathias Bremgartner

1. Das Phänomen „Theatercomics“


Comics gewinnen im gegenwärtigen Kulturschaffen immer stärker an Bedeutung. Ihre Stoffe und ihre spezifische Medialität beeinflussen Film, Fernsehen, Literatur, bildende Künste und digitale Medien (vgl. z.B. Berninger 2010). Auch im Theater bedient sich ein breites Spektrum an Produktionen der visuellen Ästhetik, der Fülle an Geschichten und der fantastischen Figuren der Comics-Welt: Am New Yorker Broadway feierte 2011 das spektakuläre Spiderman-Musical „Turn off the Dark“ Premiere und seit Herbst gleichen Jahres tourt weltweit die bühnen- und medientechnisch elaborierte englische Arena-Show „Batman Live“. Neben diesen kommerziellen Grossevents sind „Theatercomics“ aber auch in den Zentren des (hochkulturellen) Theaters zu finden: Diverse Stadt- und Staatstheater, freie Theatergruppen, Tanzkompanien und -choreographen sowie Kinder- und Jugendtheater¬formationen haben jüngst Inszenierungen hervorgebracht, die auf den Ästhetiken, Geschichten und Figuren von Comics verschiedenster Genres beruhen oder von diesen inspiriert sind. Als Beispiele können u.a. die „Prinz Eisenherz“-Inszenierungen am Hessischen Staatstheater Wiesbaden und an der Schauburg München, die Manga-Adaption „Quartier Lointain“ der Westschweizer Gruppe Supertroptop, die Tanztheater-Inszenierung „TeZukA“ des belgisch-marokkanischen Choreographen Sidi Larbi Cherkaoui oder die auf ein jungendliches Publikum ausgerichteten „Superhero“-Inszenierungen am Luzerner Theater und am Jungen Theater Göttingen genannt werden.

2. Forschungsstand

Trotz dieser unübersehbaren Präsenz hat das Phänomen „Theatercomics“ bislang im internationalen akademischen Diskurs kaum Beachtung gefunden. In der Comicforschung, welche in erster Linie von den Literatur-, Film- und Medienwissenschaften sowie der europäischen Ethnologie / Volkskunde betrieben wird, wurde Theater bisher als intermedialer Referenzrahmen nicht berücksichtigt und in erster Linie im Bereich der Wechselwirkungen von Comics und Film publiziert (z.B. Ofenloch 2007; Booker 2007). Im theaterwissen¬schaftlichen Intermedialitätsdiskurs galt das Interesse bis anhin primär dem Austausch¬verhältnis von Theater mit Literatur, Film, Fernsehen und speziell den digitalen Medien (z.B. Schoenmakers 2008, Chapple 2006, Giannachi 2004). Bisher gibt es einzig eine Publikation (Hahn 2006), die sich ausgewählten, von Comics inspirierten Theaterproduktionen widmet, ohne dabei aber die komplexen Wechselwirkungen von Theater und Comics weder in ihrer Breite, noch in ihrer Tiefe zu erfassen. Eine umfangreiche Studie zum Austauschverhältnis von Theater und Comics bleibt bislang weitestgehend ein Forschungsdesiderat.

3. Forschungsziele

Die hier projektierte interdisziplinäre Studie ist als kultur- und kunstwissenschaftliche Untersuchung angelegt, welche einerseits einen Beitrag zur Erforschung des transmedialen Mäanderns von Comics und den damit verbundenen kulturellen Zirkulationsprozessen und medialen Wechselwirkungen leistet und andererseits den Prozess der Kunst- und Medien¬aneignung im Theater anhand der bisher nicht berücksichtigten Comics verhandelt. Im Fokus des Forschungsprojekts steht das in der Arbeit näher zu definierende Genre „Theatercomics“, das im Kern auf Comics basierende Theaterinszenierungen umfasst. Gleichzeitig rücken die Verwendung von narrativen und formalen (Erzähl-)Mitteln von Comics auf der Bühne, sowie – im Anschluss an den Intermedialitätsbegriff von Christopher Balme (2004) – die Aneignung ästhetischer Konventionen und die Simulation und Realisierung comicspezifischer Wahrnehmungsweisen in den Vordergrund. Das primäre Ziel der Studie besteht in der Analyse spezifischer Aneignungsprozesse von Comics im Theater sowie den daraus resultierenden Dramaturgien und Ästhetiken der Inszenierungen. Das Forschungsprojekt versteht sich damit einerseits als Beitrag zur Untersuchung des Phänomens cultural mobility (Greenblatt 2010), sprich der kulturellen Mobilität von Stoffen, Personen und Gütern, die in den letzten Jahren verstärkt ins Bewusstsein der Forschung getreten ist. Andererseits soll die Studie einen Beitrag zu den theaterwissenschaftlichen Forschungsbereichen „(Intermediale) Dramaturgie“ und „Intermediality in Theatre and Performance“ leisten.

4. Untersuchungsgegenstand

Den Untersuchungsgegenstand für die Analyse der Aneignungsprozesse von Comics im Theater bildet das Gegenwartstheater in seinen unterschiedlichen Ausprägungsformen. Die Transponierung von Stoffen, Figuren sowie comicspezifischer (Erzähl-)Mittel, wie beispielsweise Sequenzialität, Simultaneität und Serialität, bringt unterschiedlichste Dramaturgien und Ästhetiken hervor. Die „Theatercomics“ bedienen sich beispielsweise multi- und intermedialer Spektakeldramaturgien (z.B. die Arena-Show „Batman Live“), Musicaldramaturgien (z.B. die Broadway-Inszenierung „Spiderman – Turn Off The Dark“), klassischer Schauspieldramaturgien (z.B. „Quartier Lointain“ von Supertroptop) und Hörspieldramaturgien (z.B. „Barfuss durch Hiroshima“ von half past selber schuld). Die Spielarten in der Aneignung umfassen u.a. die produktive Verschränkung theatraler und comicspezifischer Erzählweisen (z.B. „Hapless Hooligan in ‚Still Moving’“ von Pilobolus Dance Theater), die Thematisierung der Wahrnehmungsweisen (z.B. „TeZukA“ von Sidi Larbi Cherkaoui) und die Simulation von Hörgewohnheiten von Comics (z.B. „Popeye’s godda blues“ der Berner Theatergruppe Club 111) sowie Techniken des Live-Comiczeichnens (z.B. „ManoLibera“ von Scarlattine Teatro). Der Corpus zum Gegenwartstheater wird ergänzt durch ausgewählte Inszenierungen, die eine theaterhistoriographische Verankerung und Kontextualisierung des Phänomens „Theatercomics“ ermöglichen. Als Beispiele werden u.a. die Aneignung der britischen Zeitungscartoon-Figur Alley Sloper in englischen Musical Hall-Produktionen Anfang des 20. Jahrhunderts, die auf die japanische Theatergruppe Takarazuka Revue zurückgehende Manga-Aneignung in japanischen Opern oder das US-amerikanische Superman-Musical „It's a Bird...It's a Plane...It's Superman“ der 1960er herangezogen.

5. Aufbau der Arbeit / Methoden und Konzepte

Das Forschungsprojekt wird in eine Makro- und eine Mikroebene unterteilt: Auf der Makroebene gilt der Fokus der Skizzierung und Ausdifferenzierung des Genres „Theatercomics“. Die vielschichtigen Dynamiken und Strategien der theatralen Aneignungsprozesse von Comics werden hier überblicksartig vor dem Horizont der Zirkulations- und Austauschprozesse von Theater und Comics sowie anderen Künsten und Medien beschrieben. Auf der Mikroebene werden ausgewählte Inszenierungen hinsichtlich der Transponierung von Stoffen, Figuren sowie comicspezifischer (Erzähl-)Mittel untersucht. Dabei rücken die Fragen in den Vordergrund, welche (intermedialen) Dramaturgien und Ästhetiken durch die Aneignungsprozesse hervorgebracht bzw. begünstigt werden und wie und mit welchen theatralen Mitteln comicspezifische Wahrnehmungsgewohnheiten und Darstellungskonventionen auf der Bühne simuliert bzw. realisiert werden. Der Fokus der Inszenierungsanalysen liegt dementsprechend auf den Funktionen, Strukturen und Wirkungsweisen von „Theatercomics“ sowie auf der „Inszenierung des Comichaften“ (Ofenloch). Während auf der Makroebene primär das Konzept Genre (Schweinitz 1994) produktiv gemacht werden soll, kommen für die close readings der Inszenierungen auf der Mikroebene insbesondere die Konzepte Dramaturgie (Kotte 2005; Ernst 2012), Intermedialität (Balme 2004; Rajewsky 2002; Röttger 1998), Adaption / Aneignung (Hutcheon 2006; Stam 2004; 2005) und Remediation (Bolter/Grusin 2000) zur Anwendung.

6. Thesen

Nach einer ersten Durchsicht des zu untersuchenden Corpus werden der hier projektierten Studie vier Thesen zu Strukturen, Funktionen und Wirkungsweisen von „Theatercomics“ vorangestellt, die anhand detaillierter Inszenierungsanalysen überprüft werden sollen:
1. Die Entscheidung Comicstoffe und -figuren für die Bühne zu adaptieren führen zu einer Reibung mit den ästhetischen und formalen (Erzähl-)Mitteln von Comics und damit verbunden zu einer inhaltlichen und künstlerischen Auseinandersetzung und Reflexion der Strukturelemente und Wirkungsmechanismen von Theater.
2. Obwohl sie oft ohne technische Medien auskommen, sind „Theatercomics“ geprägt von Dramaturgien, die sich als intermedial beschreiben lassen. Intermediale Dramaturgie wird hier so verstanden, dass die Abläufe, Strukturen und Funktionen der „Theatercomics“ sowie deren Wirkungsweisen vom Wechselspiel und den Verschränkungen von Theater mit anderen Künsten und Medien – nicht nur ausschliesslich Comics – geprägt sind.
3. „Theatercomics“ reaktualisieren Theatermittel (bspw. Schatten- und Puppentheater) und Dramaturgien (bspw. Spektakeldramaturgie und Nummerntheater), die im traditionell bürgerlich-literarischen Theater oftmals marginalisiert werden.
4. Aufgrund der populärkulturellen Prägung von Comics und der zu kurz greifenden Zuschreibung von Theater zur Hochkultur fungieren „Theatercomics“ als Ort der Auseinandersetzung zwischen Populär- und Hochkultur, an welchem der kulturelle Stellenwert von Comics und Theater sowie die Autorität und Akzeptanz verschiedener Künste und Genres in produktiver Art und Weise ausgehandelt werden.

7. Literatur

Balme, Christopher: „Theater zwischen den Medien: Perspektiven theaterwissenschaftlicher Intermedialitätsforschung“. In: Balme, Christopher / Moninger, Markus (Hrsg.): Crossing Media. Theater – Film – Fotografie – Neue Medien. München 2004. S. 13-32.
Berninger, Mark et al. (Hrsg.): Comics as a Nexus of Cultures. Essays on the interplay of media, disciplines and international perspectives. Jefferson (NC) 2010.
Bolter, Jay David / Grusin, Richard: Remediation: Understanding new media. Cambridge (Mass.) 2000.
Booker, M. Keith (Hrsg.): May contain graphic material: comic books, graphic novels and film. Westport (Conn.) 2007.
Chapple Freda / Kattenbelt, Chiel (Hrsg.): Intermedialtiy in Theatre and Performance. Amsterdam / New York 2006.
Eisner, Will: Graphic Storytelling and Visual Narrative. New York 2008.
Ernst, Wolf-Dieter: „Intermediale Dramaturige“. In: Marx, Peter W, (Hrsg.): Handbuch Drama. Stuttgart 2012. S. 94-104.
Giannachi, Gabriella: Virtual Theatres: An Introduction. London / New York 2004.
Greenblatt, Stephen et al. (Hrsg.). Cultural Mobility. A manifesto. Cambridge 2010.
Hahn, Annegret / Schuck, Berit (Hrsg.): Comic Meets Theatre. [S.l.] 2006.
Hutcheon, Linda: A Theory of Adaptation. New York 2006.
Kattenbelt, Chiel: Multi-, Trans- und Intermedialität: Drei unterschiedliche Perspektiven auf die Beziehung zwischen den Medien. In: Schoenmakers, Henri et al. (Hrsg.): Theater und Medien: Grundlagen – Analysen – Perspektiven: eine Bestandsaufnahme. Bielefeld 2008. S. 125-132.
Kotte, Andreas: Theaterwissenschaft. Eine Einführung. Köln / Weimar / Wien 2005.
Kotte, Andreas: Definierbar ist nur, was keine Geschichte hat. Über Fortschritte der Medien und Wandlungen von Theater. In: Schoenmakers, Henri et. al. (Hrsg.): Theater und Medien: Grundlagen - Analysen – Perspektiven: eine Bestandsaufnahme. Bielefeld 2008. S. 31-41.
Kotte, Andreas: Theater als Medium? In: Ulrike Landfester und Caroline Pross (Hrsg.): Theatermedien: Theater als Medium – Medien des Theaters. Bern 2010. S. 41-68.
McCloud, Scott: Understanding Comics. New York 1993.
Ofenloch, Simon: Mit der Kamera gezeichnet. Zur Ästhetik realer Comicverfilmungen. Saarbrücken 2007.
Rajewski, Irina O.: Intermedialität. Tübingen 2002.
Röttger, Kati: Intermedialität als Bedingung von Theater: Methodische Überlegungen. In: Helbig, Jörg (Hrsg.): Intermedialität. Theorie und Praxis eines interdisziplinären Forschungsgebiets. Berlin 1998. S. 117-124.
Schoenmakers, Henri et al. (Hrsg.): Theater und Medien: Grundlagen – Analysen – Perspektiven. Eine Bestandesaufnahme. Bielefeld 2008.
Schüwer, Martin: Wie Comics erzählen. Grundriss einer intermedialen Erzähltheorie der grafischen Literatur. Trier 2008.
Schweinitz, Jörg: „‚Genre’ und lebendiges Genrebewusstsein.“ Montage/AV, 3.2 (1994): 99-118.
Stam, Robert: Literature through film: realism, magic, and the art of adaptation. Malden 2004.
Stam, Robert / Raengo, Alessandro (Hrsg.): Literature and film: a guide to the theory and practice of film adaptation. Malden 2005.